Brief an die Gemeinde im April

Wiedergeburt

Falls Sie in meinem Heimatland „Indien“ unterwegs waren, dann wissen Sie ohne Zweifel, dass Gelassenheit und Besonnenheit keine aus Yoga erworbenen Eigenschaften, sondern ein Muss sind, um den Alltag zu bewältigen, und dass Pünktlichkeit und Sauberkeit nicht selbstverständlich, sondern hoch diszipliniert erworbene Tugenden sind. Man fragt sich dann, warum es denn so ist, dass das, was für den Einen eine Tugend ist, für die Anderen selbstverständlich ist und vice versa.

Meines Erachtens macht der Begriff „Karma“ und die daraus folgende Wiedergeburtslehre Pünktlichkeit unwichtig und Gelassenheit selbstverständlich. Was ich heute nicht erledigen konnte, schaffe ich morgen. Was ich morgen nicht schaffe, mache ich nächste Woche, nächsten Monat oder nächstes Jahr oder im nächsten Leben. Ich habe Zeit! Also nehme ich alles gelassen!

Ich begegne immer wieder Leuten, die einen starken Glauben an den indischen Begriff von Wiedergeburt haben. Sie zeigen außergewöhnliches Interesse daran, darüber zu diskutieren. Ungeachtet von der Religion findet man Spuren von Wiedergeburt im Reden, Denken, Tun, Ausdruck und Tradition der ganzen indischen Bevölkerung. An Wiedergeburt glauben fast 30 % in der deutschen Gesellschaft.

Wiedergeburt enthält in sich die ganze indische Philosophie, Theologie und eine bewusst gelebte Tradition. Es ist keine Strafe wiedergeboren zu werden, sondern eine neue Chance zur Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten. Du wirst nach deinem Karma (Handlung) wiedergeboren. In dieser Hinsicht sind Gerechtigkeit, Gleichheit und Brüderlichkeit Teil der Barmherzigkeit der anderen Menschen. Man hat kein Recht darauf, weil es dein Karma ist. Dass es mir im Leben schlecht geht oder dass es mir so gut geht, ist abhängig von meinem letzten Leben. Daran ist keiner Schuld außer mir!

Im Gespräch mit Nikodemus sagt Jesus in Joh 3,3-8; „Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen…Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen“. Das ewige Leben ist eine geistliche Wiedergeburt: „Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben“ (Joh 3,36). Um dahin zu gelangen, muss man gerecht leben: „jeder, der die Gerechtigkeit nicht tut und seinen Bruder nicht liebt, ist nicht aus Gott“ (1 Joh 3,10).

Im Christlichen Sinn ist Wiedergeburt nicht etwas, das nach dem Tod geschieht. Wiedergeburt ist ein Wiederholungsprozess oder ein lebenslanges Verfahren. Wiedergeburt muss hier und jetzt stattfinden. Wiedergeburt ist eine Entscheidung und eine Herausforderung: eine Entscheidung, Gutes zu tun und eine Herausforderung, Böses zu vermeiden. Insofern ist es eine alltägliche Aktivität. 

Ihr Pfarrer P. Dr. Sabukuttan Francis MSFS